Die Parkschützer bei Stuttgart 21

Die Parkschuetzer setzen sich für den Erhalt der Schlossgartenanlagen ein


Heute möchte ich eine Lanze für die Parkschützer brechen. Sie sind am Freitag aus den Schlichtungsgesprächen ausgestiegen.

Die Parkschützer wenden sich vor allem "gegen die Tiefer- und Querlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs" beim Großprojekt Stuttgart 21. Diese Bahnhofs-Drehung bedingt den "Kahlschlag" von 280, zum Teil Jahrhunderte alter Bäume. Sie müssen wegen der sogenannten "Lichtaugen" im "Mittleren Schlossgarten" weichen. Dadurch werde der "natürliche und historische Zusammenhang zwischen dem Stuttgarter Talkessel und dem Neckartal vollends aufgelöst", so die Parkschützer.

"Na und!?", wird manch ein Leser hier Achsel zuckend denken, "auch woanders werden Bäume für Bauprojekte gefällt."
"Haben die Verantwortlichen nicht das Pflanzen von erheblich mehr Bäumen angekündigt?", werden andere einwenden, "was soll also die ganze Aufregung?"
"Die sollen sich nicht so haben!" mögen wiederum ganz andere unter Ihnen denken.

Jedoch, so einfach ist das Ganze nicht. Nicht nur, weil mittlerweile schon fast 31.000 Menschen in Stuttgart Parkschützer geworden sind, sondern aus mehreren Gründen, die ich im heutigen Beitrag kurz beleuchten möchte.

Grund Nummer "EINS": Stuttgart ist eine Gartenbaustadt mit langer Tradition
Stuttgart ist eine Gartenstadt. Eine Stadt der Landschaftsparks, für die bereits Mitte des vierzehnten Jahrhunderts die erste Pflanze gesetzt wurde. Richtig los ging es mit dem Bau der Schlossgartenanlagen im neunzehnten Jahrhundert: 1808 wurden die oberen Schlossgartenanlagen eingeweiht. Über die mittleren und unteren Schlossgartenanlagen bis hin zum Rosensteinpark wurden die Parkanlagen in den Folgejahr[zehnt]en Zug um Zug erweitert.
Im zwanzigsten Jahrhundert setzte sich die Tradition durch die Reichsgartenschau und die Bundesgartenschauen bis zum Killesberg hinauf fort.
Es war ein anderes Mega-Städtebau-Projekt, das wohl viele bereits vergessen haben, das im Jahr 1993 diesen Grüngürtel schloss: Die Internationale Gartenbauausstellung (IGA). Anlass für ihre Durchführung war, das sogenannte "Grüne U" zu schließen. Das heißt, die IGA erschloss den Wartberg und den Leibfried`schen Garten und machte beide Gebiete für die Öffentlichkeit nutzbar. 230 Millionen Mark kostete dies damals. Dabei wurde auch der etwa 45 Hektar große Killesbergpark restauriert. Durch die IGA ist es seit 1993 möglich, von der Stuttgarter City, etwa vom Schlossplatz aus, durch die Schlossgartenanlagen immer im Schutz von Parkanlagen im Grünen spazieren zu gehen, zu wandern, zu joggen, zu radeln oder zu inlinern. Acht Kilometer weit. Von der City bis hinauf in den Killesbergpark und auf die [Halb]Höhenlagen des Kräherwaldes.

Auf dem Weg dorthin passiert der Fußgänger einen Mix verschiedener landschaftsplanerischer Elemente: Die barock-klassizistischen Achsensysteme der Schlossgartenanlagen; den Rosensteinpark, angelegt im Stil eines alt-englischen Landschaftsparks, an dessen Nordostflanke sich der botanisch-zoologische Garten Wilhelma mit seinen maurischen Bauten befindet, der Leibfried`sche Garten, ein etwa acht Hektar großes Areal eines ehemaligen Schokoladenfabrikanten, die Natur- und Ökolandschaft des Wartbergs, in dem nicht nur ein kleiner See mit Wasserspielen, sondern auch schwäbische Gaumenfreuden den Wanderer zur Rast einladen und eine Ökostation Schulklassen und der VHS dient, bevor es steil des Weges vorbei an einigen Kunststationen der ehemaligen IGA hinauf in den Killesbergpark geht mit seinen monumentalen Bauten, die im Zuge der Reichsgartenschau 1936 angelegt wurden. Dort finden sich jedoch auch wunderschöne terrassierte Blumengürtel und Staudenbeete, seltene Bäume, eine Schar Flamingos sowie ein Aussichtsturm, der ungewöhnliche Ausblicke über die Landeshauptstadt bis hinaus ins Rems- und Neckartal bietet.

Grund Nummer ZWEI – Missachtung der Erlebnisgeneration
Verständlich ist der Zorn der Parkschützer und ihre Haltung, sich aus der Schlichtung auszuklinken vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte: Egal, wo man derzeit hinkommt, überall ist Stuttgart 21 Thema Nummer eins. Insbesondere die Schutzaktionen von Bäumen, warum Menschen in Baumhäusern sitzen und alte Bäume schützen, verstehen viele Menschen nicht! Es gibt nicht wenige, die sich verbal aufregen:
"Was sind denn das für Typen, die Parkschützer? Was ist der Wert eines Baumes im Vergleich zum Wert eines Menschen? Woanders verhungern Menschen und hier gehen die Schwaben zum Schutz von Bäumen auf die Straße! Wo sind diejenigen, die für hungernde Kinder, auch in unserem Land, auf die Straße gehen?" Emotionen, die sich in Sätzen und Fragen, derzeit entladen, ausgesprochen von Menschen, die meist unter 60 Jahren sind. Menschen, die einer Generation angehören, die in Deutschland, insbesondere in Baden-Württemberg, nur Wohlstand und Vollbeschäftigung kennen und seit ihrer Geburt in Friedenszeiten leben durften.

Wer sich die Mühe macht und einmal nach-fragt, hinter-fragt, was einen anderen dazu treibt, für den Schutz eines Baumes auf die Straße zu gehen, wird abgesehen vom landschaftsplanerischen Kulturgut Interessantes aus der jüngeren, dunklen Geschichte unseres Landes erfahren.
Oder hätten Sie gewusst,
• dass Stuttgarter in den kalten Winternächten der [Nach- und ]Kriegsjahre lieber froren, als in den Schlossgarten zu gehen und die alten Bäume zu fällen?
• dass in den Bombennächten des zweiten Weltkriegs Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger lieber ihre Häuser brennen ließen, um stattdessen einen alten Hundertjährigen Baum zu löschen?

Diese beiden Beispiele, die mir Vertreter der Erlebnisgeneration am heutigen Sonntag beim Spaziergang durch die unteren Schlossgartenanlagen erzählten, zeugen von der Bedeutung und der Symbolik welche die alten Parkriesen, die Platanen, aber auch die anderen alten Laubbäume, Eichen, Ulmen oder Linden, im Stuttgarter Schlossgarten, nicht nur für die ältere Generation haben.
"Wisset `Se, uns ging es damals darum, die alten Parkbäume als Symbol für das Leben, für das Werden zu erhalten! Damit es sich lohnt, weiter zu machen, weiter zu leben!" sagte eine alte Dame, die sicher noch ein paar Jahre mehr auf dem Rücken hat wie der Schlichter.

Wem es daher bei der Schlichtung 21 um den Erhalt kultureller Werte geht, der sollte sich bemühen, auch die Parkschützer wieder an den Verhandlungstisch zu holen! Umgekehrt – an die Adresse der Parkschützer – gerichtet: Kultur lässt sich nur erhalten, wenn man auch bereit ist „gegen die ENGE des technokratischen Denkens und für den GEIST der Kultur“ am Verhandlungstisch einzutreten! Damit der "in ganz Europa berühmte Zier- und Lustgarten" möglichst weitgehend erhalten bleibt. ODER wenigstens andere landschaftsgärtnerische Maßnahmen zu seinem Schutz heraus verhandelt werden können! Sich in den [Schmoll]Winkel eines der alten Bäume zu verziehen, wäre gerade jetzt das völlig falsche Signal!

In Reminiszenz an die Stuttgarter und ihre Tradition der Gartenschauen stelle ich hier noch ein Video aus YouTube ein. Lassen Sie sich für einen Augenblick in die Welt der 22 Gärten der Welt entführen, die 1993 im altenglischen Rosensteinpark eine temporäre Heimat für die halbjährige Gartenschau fanden. Der chinesische Garten wurde übrigens nach der IGA am Killesberg vollständig wieder aufgebaut. Nach dem Betrachten des Videos und dem Lesen dieses Beitrags verstehen manche Leser vielleicht die Anliegen der Parkschützer [besser]




NACHTRAG am 22.10.2010 zu den Parkschützern:
Einer der führenden Köpfe der Parkschützer wurde wegen einer "unangemeldeten Demonstration" im Juli in einer Verhandlung am gestrigen Donnerstag vom Stuttgarter Amtsgericht "verwarnt". Die Stuttgarter Nachrichten schreiben darüber, dass die Verhandlung ein "Lehrstück" dafür sei, "wie spontan eine Demonstration sein darf, ohne angemeldet werden zu müssen."
Der Artikel kann hier nachgelesen werden.
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