Montauk III – Eine Lebensbeziehung wie ein Donnerschlag

Der dritte Teil meines Max Frisch-Lese-Experiments zu Montauk handelt von Menschen und ihren Beziehungen, nicht irgendwelchen, sondern solchen von ganz besonderer Art: Der Lebensbeziehung.

"Geh…geh…geh…Beziehung soll man niemals sagen",herrscht mich einer an, während ich die obigen Zeilen Ihnen niederschreibe.
Ich zucke zusammen, während über mir der nächste Schwall donnernder Worte herabregnet:
"Es gibt Frauen und gibt Männer und dazwischen gibt es entweder Liebe oder gar nichts oder Freundschaft oder Verachtung oder Hass oder Neid. Beziehung ist eine Verächtlichmachung des Partners. Beziehung ist eins der dümmsten Worte, die wir haben."
Ich bin wie vom Donner gerührt.

Dann sollte ich also nicht mehr die Worte von der Lebensbeziehung in den Mund nehmen, wenn ich nun über Max Frisch schreibe und seine…, ja – was war das dann? Wie sollte ich das nennen, was er da beinahe zeitlebens, zumindest jedoch bis etwa um das fünfzigste Lebensjahr herum zu einem anderen, er nennt ihn in Montauk den W., pflegte? Und worüber ich las. Auf elf zusammenhängenden Seiten in jenem Buch Suhrkamp Quarto eine Verlagsreihe die mehrere wichtigsten Werke eines Autors versammelt bei Max Frisch Die Tagebuecher 1946 bis 1949 und 1966 bis 1971  sowie Montauk den Homo Faber und Stiller Ferner Mein Name sei Gantenbein und Der Mensch erscheint im Holozaen mit einem Nachwort von Volker Hage und den Lebensdaten von Max Frisch Der Buchschinken hat 1782 Seiten





"Geh…geh…geh… sei geistreich. Mache staunend. Du bist doch auch Frühaufsteherin", flüstert mir nun die Stimme, seine Stimme, aus dem Off, aus dem Jenseits, ins Ohr.

Das imaginäre Gegenüber, mein Lesepublikum, Sie verehrte Leserinnen und Leser, hier staunend machen?
Nun denn, lieber Denkanstifter, ich versuch`s.
Ich versuche jenes von Ihnen verachtete Wort zu vermeiden, wenn ich heute darüber schreibe, dass ER, der Protagonist in Montauk, seinem Lebensfreund ["Ist Ihnen das Wort angemessener, angenehmer?"] W. elf Seiten widmet, voller Bewunderung über ihn spricht:
Darüber wie er ihn einstmals kennenlernte, in der Schule. Wie sie sich von Kindesbeinen an anfreundeten, viel Zeit miteinander verbrachten und gegensätzlicher nicht hätten sein können.
W. aus begütertem Elternhaus mit "eigenen Tennisplatz im Garten" und Hauspersonal.
M. schreibt, er habe ihm viel zu verdanken: "Es gab nur eine Sache, wofür ich nie dankbar war: seine Anzüge, die für mich eine Nummer zu groß waren. Meine Mutter konnte zwar die Ärmel kürzen, die Hosen auch, trotzdem passten sie mir nicht. Ich trug sie halt, um W. nicht zu kränken…"

Wer kennt sie nicht solche Freundschaften?
Wer hat nicht jemanden in seinem Lebenskreis, dessen alte Jacke oder Hose oder Kleid oder Schuhe er geerbt und aufgetragen?

Auch wenn es wohl eher selten ist, dass einem ein solcher Freund, eine solche Freundin das Studium bezahlt, wie es Max Frisch mit W. geschehen: "16.000 Franken (was damals mehr wert war als heute) für vier Jahre; also 4.000 Franken im Jahr."
Auch nicht-materielle Werte schenkte er ihm, brachte ihm die Kunst, die Musik zum Beispiel nahe und das Engadin. "Ohne W. wäre ich nie auf die Berge gelangt", bekennt M., "und ich meine ja nicht nur, dass die Reise ins Engadin für mich unerschwinglich gewesen wäre. Er kannte das Engadin. Er war der bessere Alpinist. Seine Familie hatte dort einen Bergführer, der ihn Jahr für Jahr unterrichtet hatte."
M. profitierte davon, wie auch von anderem, der Kunstsammlung der Familie etwa, mit deren Verkauf er dann als Studiosus betraut. Die er vermakeln durfte, eher sollte. Eine Bitte, die er nicht abzulehnen wagte: "Es war mir nicht ganz wohl bei dem Vorschlag, anderseits fand ich es richtig, dass ich dem Haus, dem ich schon so viel verdanke, einmal einen Gefallen erweise." Drei Nachmittage opfert er dieser "Occasion", den alten Gemälden aus Privatbesitz.
Die Familie von W. schaltet Inserate. Vom Verkauf sollte er Tantiemen erhalten, je mehr er für ein Gemälde erzielte, um so größer sollte sein Gewinn sein. "Ein Advokat, der Firma des Vaters verpflichtet, kaufte eine große Magdalena mit nacktem Busen, die sich fürs Schlafzimmer eignet. Die Hirschen und Eber hatten es schwerer. Ich empfahl Landschaften, die nicht nur den Jäger ansprechen, Landschaften mit Windmühle im Gegenlicht oder mit Schilf."
Jedoch er verkaufte kaum etwas und wenn "auf den untersten Preis. Kein guter Makler also."

Nach drei Monaten wurde die Unternehmung eingestellt. Max Frisch war gekränkt. Es kam weder darüber noch über andere Differenzen je zu einem Krach zwischen M. und W. Dennoch mit den Jahren veränderte sich die Lebensfreundschaft ["Ach, wie schwer es fällt, das Wort Beziehung zu vermeiden!"].

In der Rückerinnerung, die Max Frisch hier betreibt, wird ihm bewusst, dass er nie eine der Freundinnen, eine der Geliebten, des W. "zu sehen bekommen habe", nur dessen Ehefrau.
Umgekehrt lud er ihn jedoch in seine gemeinsame Wohnung mit Ingeborg Bachmann ein [ja, hier auf Seite 1552 – sehr früh, wie ich finde – widmet er beiden eine gemeinsame Erinnerungsseite, seinen beiden wichtigen Lebens-Begegnungsmenschen. Dass sie jahrelang die Geliebte und Lebensgefährtin von Max Frisch dürfte den meisten unter Ihnen bekannt sein, werte Leser-innen].
Doch beide, W. und I., hatten offensichtlich ihre Schwierigkeiten miteinander - "trotz Champagner; ich wusste, dass er Champagner mag. Und sie wusste, wie viel ich diesem Mann verdankte."
Der von ihm befürchtete Philosophenstreit zwischen den beiden ihm da noch wichtigen Menschen bleibt zwar aus, dennoch fühlen sie sich gegenseitig unverstanden; Frisch beschreibt das sehr plastisch durch die Wahl der Beispiele aus jener gemeinsamen Begegnung der Drei. W. scheint Ingeborg Bachmann verachtet zu haben, obwohl sie dem W., wie Frisch später aus dritter Hand erfuhr, "in einem gewissen Sinn" gefiel.

Ob das dazu führte, dass W. und M. in jenem Jahr 1959 ihre letzten Begegnungen, auch ihre letzte gemeinsame Wanderung, miteinander hatten? Ob Frisch sich erneut gekränkt fühlte, als er von einem Dritten nach jener Dreier-Begegnung erfuhr, "dass W. sich wunderte, wie der Frisch zu einer solchen Gefährtin gekommen sei." Oder lag es daran, dass M. selbst sich von W. schon lange nicht mehr verstanden fühlte, sie sich kontinuierlich auseinander entwickelt hatten, seit M. wieder mit seiner Schriftstellerei anfing.
"Wann er mir gleichgültig wurde, weiß ich nicht genau."

Das Ende dieser Leseseiten ist denn auch ein Donnerschlag. Eine Grausamkeit. Es fühlt sich an wie der plötzliche Tod. Der Tod einer Freundschaft, die endet. Jedoch nicht, weil einer plötzlich den Hut ins Grab wirft, sondern weil sie einschlief, verloren ging. Die beiden gingen einander verloren. Obwohl sie sich doch so lange hatten, beinahe ein halbes Leben lang.
Ob einer an des anderen Grab gestanden, dazu gibt diese Textstelle nichts her. [Vielleicht findet der geschätzte Bücherblogger einen Eintrag in einem der drei Tagebücher dazu?]
Ein Schock ist es dennoch, was Frisch hier seinen Leser[inne]n zumutet, auf den letzten Zeilen, in den letzten Sätzen dieser elfseitigen Erinnerung. Eine Erinnerung, die am Textende wie eine "Erynnie" anmutet, eine jener griechischen Rachegöttinnen, über die er zehn Seiten vorher schrieb: "Wo werden die Erynnien mich packen?" Mir scheint: HIER haben sie ihn gepackt!

Wie anders doch sind die Erinnerungen an einen anderen, den ich HIER >>> schon in meine Erinnerungen einschloss, damals und heute.
"Jawoll, geh…geh…geh… bis Du…. bis dahin empfehle ich mich Euch – in aller Liebe: Von A bis Zet! K.W."

Besondere Worte zum stillen Gedenken
Eine Seite Ehrerbietung fuer einen grossen Menschen

Anmerkung: Die Beisetzung fand bereits im engsten Familienkreis statt.

P.S.:
In eigener Poetologie [kann ich das so nennen?]
Das Morbide!
Ich vermisch[t]e es heute miteinander.
Ihnen, liebe aufmerksame Leser[innen], ist es oben sicher nicht entgangen. Ich hatte es gestern in [m]einem Kommentar an einen Lesegast hier noch scherzhaft hingeschrieben. Heute holt mich das ein! Schneller als ich dachte. Wobei ich daran gar nicht dachte, an etwas Morbides. Bis vorhin, als ich mich an diese Schreib-Maschine setzte.
Manche unter Ihnen mögen es als geschmacklos empfinden, wenn ich d a s >>> E I N E mit jenem a n d e r e n hier >>>>> vermische. Doch das ist Postmoderne. So sind sie, besser waren sie, die >enfants terrible<, die Väter der Postmoderne, William S. Bourroughs, Italo Calvino, Julio Cortázar, Barthes immer ein wenig morbide, immer ein wenig verrucht. Unplanbar. Unberechenbar.
Das lässt sich nicht lernen. Das passiert einfach. Mir auch. Heute. Ohne es absichtlich gewollt zu haben. Wenn eine[r] von Ihnen sich mit Ekel abwendete, nun, ich verstünde es. Der rational-ethisch-religiöse Teil in mir versteht es, die Schreibteufelin, die ihre Höllenfeder in die Welt hinaus reckt, die nicht. Die ist radikal. Sie muss radikal sein. Deswegen: Postmodernes Schreiben. Das ist mir ein wenig wie die Cut-up-Technik. Nur dass ich kein bereits gedrucktes Material in vier Teile zerschneide und willkürlich neu zusammensetze, darauf wartend, was für unsinnige Worte sich daraus ergeben. Mir geht es um das Verweben von altem mit neuem Material, das Sezieren und Auseinandernehmen von Vorhandenem [und das kann Vielerlei sein] und dann miteinander verschränken, neu miteinander verweben. Von dem, was da war und ist, mit dem was neu erdacht, überlegt, erwogen, aufgeregt, erregt, angeregt wird. Von meinem Inneren oder von außen an mich herangetragen. Entdeckt. Aufgedeckt. Altes Abschneiden und Neues ansetzen. Vielleicht ein wenig in der Art wie der Vater von Frankenstein oder der Plastinator von Heidelberg, nur dass ich es mit Worten im Computer und nicht mit Menschen auf dem Labortisch der Forensischen treibe.
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